Inofizielle
Georg Tessin Website N A C H R U F |
Staatsarchivrat a.D. Dr. Georg Tessin geb. Rostock 16. Juni 1899, gest. Koblenz 18. Oktober 1985 Als sich am 16. Juni 1979 die zahlreichen Gratulanten zum 80. Geburtstag Georg Tessins in der Koblenzer Wohnung des Jubilars eingefunden hatten, erfreute ihn besonders eine kleine Bemerkung in der Ansprache des Vertreters der Mecklenburger Landsmannschaft, er sei zeitlebens ja ein "Listenschreiber" gewesen — und in der Tat weist die lange Liste seiner Veröffentlichungen Zahlreiche Titel auf, die Bezeugen, wie ernst es ihm stets mit der wissenschaftlichen Aufgabe war, die erdrückende Fülle des Faktischen in eine überschaubare Ordnung zu bringen. Dabei sind die Militärgeschichte immer wieder im Vordergrund, aber keineswegs ausschließlich. Aus der Bibliographie, die auf Initiative und unter Mitarbeit von Frau Vera Tessin der Festschrift zum 80. Geburtstag (Aus tausend Jahre Mecklenburgischer Geschichte. Festschrift für Georg Tessin. Schriften zur Mechlenburgischen Geschichte, Kultur und Landeskunde, Heft 4. Herausgegeben von Helge bei der Wieden. Böblau Verlag Köln, 1979) beigegeben werden konnte, seien hier in der Chronologischen Folge an größeren Arbeiten genannt: — 1922: (Dissertation): Die Geschichte des mecklenburgischen Militärwesens 1648–1718. (Gedruckt erst 1966 unter dem Titel: Mechlenburgisches Militär in Türken–und Franzosenkriegen). — 1937–1941: Mecklenburgische Bauernlisten des 15. und 16. Jahrhunderts (nur 3 Bände erschienen; Reihe im Manuskript vollständig bearbeitet). — 1939: Das Archivwesen Ibero-Amerikas. — 1957: Stäbe und Truppeneinheiten der Ordnungspolizei 1936–1945. — 1959: Formationsgeschichte der Wehrmacht 1933–1939; 1974 erweitert zu: Deutsche Truppen und Verbände 1919–1939. — 1965 und 1967: Die deutschen Regimenter der Krone Schweden 1645–1718 (2 Bände). — 1966ff: Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht uns Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg (16 Bände) — Herausgabe im Vorbereitung: Ancien régime. Die Regimenter aller europäischen Staaten vom 16. Jahrhundert bis 1806. — Ungedruckt: Das Schiffsregister. Eine Chronik der deutschen Dampf–und Motorschiffahrt seit 1840 bis heute. Die Reedereien und ihre Schiffe. Es erscheint unglaublich, daß ein einzelner Mann diese Bibliothek von Nachschlagewerken auf sehr unterschiedlichen Gebieten selbst erarbeitet und in langen Nächten–bis 2 und 3 Uhr morgens–in die Maschine getippt hat (denn seine Handschrift konnte niemand lesen); ganze Institute hätten auf Jahrzehnte daran zu tun gehabt. So sollte man meinen, daß der Mensch in diesem Werk ganz und gar aufgegangen sei. Noch unwahrscheinlicher als die Lebensleistung mutet bei die Geschichte eines abenteuerlichen Lebens schon in der Stichwortartigen Andeutung an. Kindheit und Schulzeit in Rostock. 1917 Abitur, eingerückt, Flugmeldedienst. 1919–1922 Studium in Rostock (1920 Zeitfreiwilliger, Gefecht bei Warnemünde), Burschenschaftler; Hauptfach: mittlere und neue Geschichte; militärgeschichtliche Doktorarbeit "ganz ohne Anleitung" wie er selbst stolz Vermerkt. Anstellung als Lohnbuchhalter auf der Rostocker Neptun-Werft: "von Volkswirtschaft keine Dunst", heißt es dazu in den Lebenserinnerungen. Dann, 1923, durch einen Bundesbruder, der Pressereferent bei der HAPAG ist, als Statistiker nach Hamburg an die DERUTA, die Deutsch-russische Transport–und Lagergesellschaft, empfohlen ("That's the man, who!"); er wird Geschäftsführer des Reisedienstes dieser Gesellschaft; mehrere Rußlandreisen (bis in den Kaukasus). 1926 Heirat; Auflösung der DERUTA; Leitung des HAPAG-Reisebüros in Hamburg / Hotel Atlantic, 1929–1932 in Magdeburg. Drohende Auflösung des Magdeburger Büros und damit Verlust der Selbständigkeit. Entschluß, Archivar zu werden. Wider Erwarten noch für den laufenden Lehrgang am Institut für Archivwissenschaft (IfA) in Berlin-Dahlem angenommen; Jahresarbeit über "Das Archivwesens in Südamerika" (später in der Archivalischen Zeitschrift gedruckt). Nach der mündlichen Prüfung einziger Facharchivar-Bewerber für drei freie Stellen in Mecklenburg; 1933–1939 am Geheimen–und Hauptarchiv in Schwerin (" ... ein vollständig seit der Urkundenzeit erhaltenes großes Landesarchiv — keine Findbücher — Archivare suchen selbst im Magazin und kennen die Bestände "); 1935 Auslandsreise zur Hochzeit eines Bruders nach Sansibar. Mit Kriegsbeginn wieder im Flugmeldedienst wo er während des ganzen Zweiten Weltkrieges eingesetzt war, zuletzt als Hauptmann (Kr.O.) bei einem Luftnachrichten-Regiment in einer Radar-Stellung. Bei Kreigesende englischen Gefangenschaft in Hamburg; Flucht zur Familie nach Schwerin. Formlose Entlassung aus dem Archivdienst; kurz darauf Verhaftung, 1945–1948 im Konzentrationslager Neubrandenburg: "keine Nachrichten von außen, lebendig tot". Verlegung nach Frankfurt a.d. Oder, dort Übergabe vom NKVD in Armeegewahrsam; "mit einem Vortrag über die Bauernlegung in Mecklenburg gewinne ich auch die Antifa; mit einem Vortrag über die deutsche Ostsiedlung verspiele ich alles"; Rücktransport über Berlin nach Neubrandenburg. Nach der Entlassung Flucht über Berlin nach Lübeck, der Heimat seiner Frau; arbeitslos, Landarbeiter. 1949 Anstellung als Fahrplanreferent beim Fremdenverkehrsverband Nordmark; dann: Leiter des Verkehrsbüros in Schleswig; das Schiffsregister entsteht. Erst 1954 bietet sich wieder eine Gelegenheit, in den Archivdienst zu treten, zunächst im Archivlager Göttingen, dann im Staatsarchiv Wolfenbüttel, wo er durch Zufall seine Rostocker Doktorarbeit wieder zu Gesicht bekommt, die er sofort kopiert. Inzwischen ist das Bundesarchiv begründet worden, 1954 auch — als dessen Abteilung — das Militärarchiv, das am 1. August 1955 seine Arbeit aufnimmt und dem Georg Tessin bis zu seiner Pensionierung, 1964, angehört. Es ist anfangs, wie das Bundesarchiv insgesamt, ein Archiv ohne Archivalien; aber schon bald erhält es aus München das einzige vollständig überlieferte Exemplar des Feldposrübersicht 1939–1945. Darauf, sowie — zur Klärung der Einsatzräume vieler kleinerer Einheiten — auf die vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes herausgegebene vielbändige Vermißtenbildliste baut Georg Tessin seine Dokumentation der deutschen Militäorganisation im Zweiten Weltkrieg auf, die ab 1966 — zwei Jahre nach seiner Pensionierung — im Druck erscheint. Daneben wird im Ruhestand eine Dokumentation der Regimenter all europäischer Staaten des "Ancien régime" (bis 1806) begonnen und trotz immer stärkerer Behinderung durch ein Augenleiden, das schließlich zur Erblindung des Achtzigjährigen führt, mit Hilfe seiner Frau und einer Sekretärin geführt. In seinem letzten Lebensjahr durfte er noch mit Genugtuung und Freude erleben, daß ein Verlag erste schritte zur Herausgabe diesen Riesenwerks unternahm. Nur etwas mehr als sechzehn Jahre lang (1933–1939, 1955–1964) stand Georg Tessin im staatlichen Archivdienst; aber man darf sagen, daß er in diesen Jahren–denen noch zwanzig Ruhestandsjahre folgten, in dem die Schaffenslust ihn erst so recht ergreifen schien–seine Erfüllung als Wissenschaftler und als Bewahrer der Erinnerung an eine Überlieferung gefunden hat, deren Bogen sich für ihn von den Bauerngeschlechtern im Siedlungsland Mecklenburg vor dem Dreißigjährigen Kriege bis zu dem organisatorischen Rahmen der Völker prägender Kampf um Geltung im Deutschen Reich und seinen Gliedstaaten und in Europa abspielte. Sein knurriger Humor wurde gerade von den jüngeren Kollegen geschätzt, die sich noch mit Vergnügen entsinnen, wie er den Assessoren von damals mit pfiffigem Ernst erklärte: "Ja, sehen Sie, meine Herren: es sind gerade die püttscherigen Kleinigkeiten, die dem Archivar Freude machen!" Seinen Frau, seine treuste Helferin, faßte es in dem einen Satz: "Was er tat, das tat er ganz!" Am 19. November 1985 — es war der 59. Hochzeitstag–wurde die Asche am Dom zu Ratzeburg, seiner mecklenburgischen Heimat nahe, beigesetzt. Brün Meyer Der Archivar, Jahrgang 39, 1986, Heft 3 |